Miteinander statt Nebeneinander



Der GBS-Standort an der Schule Tonndorf  ist einer von sechs Leuchttürmen der Qualitätsinitiative „Wir gehen aufs GANZE“. Das Konzept der Initiative wurde vom Dachverband Der Paritätische Hamburg entwickelt und gemeinsam mit den sechs beteiligten Ganztagsschulen auf den Weg gebracht. Die GBS-Gestalter gingen zum Schuljahresbeginn 2014 / 2015 an den Start. Ziel des Projektes ist es, praktisch aufzuzeigen  wie ein guter Ganztag gelingen kann
„Denn wir wollen mehr in Hamburg. Mehr Zeit für eine gelungene Zusammenarbeit, mehr Zeit für gute Ideen und mehr Zeit für Kinder!“

Hamburg hat seit dem Schuljahr 2013/2014 fast alle Grundschulen zum Ganztag weiterentwickelt. Von 203 staatlichen Grundschulen bieten heute 125 Schulen die sogenannte Ganztägige Bildung und Betreuung, kurz GBS an.
Der Rudolf-Ballin-Stiftung e.V. waren eine gute Kooperation und Verzahnung mit dem jeweiligen Schulstandort von Anfang an wichtig. Bereits im ersten Pilotprojekt im Jahr 2010 wurde darauf hingewirkt, dass nicht zwei Institutionen parallel nebeneinander, sondern gemeinsam miteinander arbeiten, zum Wohle der kindlichen Entwicklung und Bildung.
Bis heute gibt es für die Kooperation der beiden Bildungspartner umfassende  Herausforderungen, da die zeitlichen Ressourcen zur gemeinsamen Kooperation für die Kinder- und Jugendhilfeträger sowie für Schulen knapp bemessen sind und nur wenige Minuten täglich beinhalten. Hinzu kommt, dass es oft ein unterschiedliches Bildungsverständnis gibt und die enge zeitliche schulische Rhythmisierung es schwer machen Ganztag gemeinsam zu denken, zu erleben und zu gestalten.

Die GBS-Gestalter wollen einen qualitativ besseren Ganztag realisieren. Ein zentraler Schlüssel ist dabei eine zusätzliche Stunde mehr gemeinsame Zeit. Die Pädagoginnen des Nachmittags sind bereits um 12, statt erst um 13 Uhr in der Schule. In dieser gemeinsamen Stunde arbeiten die Pädagoginnen und Pädagogen des Vor- und Nachmittags gemeinsam mit den Kindern. In einer Stunde wird möglich, was vorher fehlte: Begegnung, Austausch und das gegenseitige Erleben eines anderen professionellen Ansatzes – zwei Professionen ziehen an einem Strang und gestalten den Ganztag aus einem Guss! Bildung wird lebendig und vielfältig.

Es gibt zahlreiche innovative Ideen, die ganz im Sinne der Kernbotschaften der Initiative sind: GANZ KIND – die Schule konsequent vom Kind aus denken.
Die Schule vom Kind aus denken heißt, durch die Brille des Kindes den Bildungsalltag zu betrachten und zu hinterfragen. Auf welchen Wegen lernen Kinder? Wo in ihrem Alltag begegnen sie Phänomenen der Mathematik, Naturwissenschaft, Deutsch und Kunst? Hier eröffnet sich die Möglichkeit neue Lernformen gemeinsam zu entwickeln und in den Schulalltag der Kinder zu integrieren und die bisherigen, etablierten Traditionen zu hinterfragen und ggf. aufzubrechen. Kreative Methoden des Nachmittags können in den Vormittag mit einfließen und der Nachmittag kann begonnene schulische Inhalte in lebenspraktischer Form aufnehmen und erfahrbar machen.

Die gemeinsame Gestaltung der GBS fördert so auch die Möglichkeit, den Kindern am Nachmittag  erweiterte Kompetenzen zu vermitteln. Durch Spiele, Bewegung, Experimente, Kunst und Kultur können Geduld und Konzentration gestärkt, die Kreativität beflügelt oder das soziale Verhalten gefördert und reflektiert werden.

Gemeinsam entstehen am GBS-Standort Tonndorf neue Projekte im Bereich Kunst und Theater und es entstehen neue Formen des Lernens. So gibt es z.B. in einer Klasse in der letzten Stunde eine Entspannungseinheit Yoga. Die Kinder sind nach dem Vormittag häufig erschöpft und können in dieser Zeit nunmehr neue Energien tanken, ihre Koordination üben und zur Ruhe kommen.
Ebenso werden gemeinsam in der 5. Stunde Projekte entwickelt, die dann auch punktuell im Vor- oder Nachmittag weitergeführt werden. So erarbeitet ein Team aus Lehrerin und Erzieherin mit der Klasse 2 ein Theaterstück, das zur Einschulung der Erstklässler im neuen Schuljahr aufgeführt werden soll. Das Besondere an dieser gemeinsamen Produktion ist, dass an dieser Aufführung sowohl am Vor- als auch am Nachmittag kreativ gearbeitet wird. Im Fach Theater finden die Proben statt. Die Kinder der zweiten Klasse proben konzentriert für die Erarbeitung ihres Theaterstückes. Am Nachmittag jedoch werden die Requisiten und die Bühnenausstattung für das Stück produziert. Hier haben auch Kinder aus anderen Jahrgängen die Möglichkeit sich am kreativen Prozess zu beteiligen und werden Teil des Ganzen. Eine echte Gemeinschaftsproduktion!

Die Ganztägige Bildung und Betreuung an Schulen bietet Kindern viele Angebote. Der Ganztag ist nur dann ein Gewinn, wenn die Schule am Vormittag und die Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe am Nachmittag zu gemeinsamer Bildung verschmelzen: Miteinander statt nacheinander!

Wir gehen aufs GANZE bedeutet, dass die Zusammenarbeit von Lehr- und pädagogischen Fachkräften gezielt gestärkt und inhaltlich verbunden wird. Das heißt auch, dass die Kompetenz und Qualität der Jugendhilfe in den Schulen gleichberechtigt ernstgenommen wird. Die Kooperationspartner begegnen sich auf Augenhöhe. Die Jugendhilfeträger sind nicht mehr „nur zu Gast“ an den Schulen, sondern kompetenter und fachlich geschätzter Partner. Eine Partnerschaft kann am besten wachsen, wenn sich beide Partner in ihrer Arbeit kennen und wertschätzen lernen. Dies ist aber nur dann möglich, wenn für diese Aufgabe die zeitlichen Ressourcen zur Verfügung stehen.

Im „normalen“ GBS-Alltag stehen den Lehr- und pädagogischen Fachkräften diese Zeiten nicht zur  Verfügung , die inhaltliche Arbeit des Vor- oder Nachmittags kennen zu lernen. In der gemeinsamen Stunde von 12.00 – 13.00 Uhr haben die Erzieherinnen und Erzieher die Gelegenheit ihr professionelles Können in einem wertschätzenden Rahmen einzubringen. Sie selbst bekommen einen guten Einblick in die schulische Arbeit der Kinder und können am Nachmittag die Lernprozesse, z.B. in der Lernzeit oder Hausaufgabenzeit besser unterstützen.

In Tonndorf haben sich durch die gemeinsame Stunde Lehr- und pädagogische Fachkräfte  gut kennen und schätzen gelernt, sowohl in ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten als auch in ihrer Fachlichkeit. Dadurch entstehen Ideen, gemeinsame Arbeitsansätze und die Bereitschaft sich flexibel zu unterstützen. So können Arbeitsressourcen vielfältig genutzt und eingesetzt werden. Es entwickelt sich die Idee für manche Projekte Ressourcen zu bündeln und auch vom Rhythmus der 5. Stunde abzuweichen, um stattdessen eine gemeinsame Doppelstunde zu gestalten und auf diese Weise mehr Zeit für inhaltliche Arbeitsprozesse zu haben.
Die gegenseitige wertschätzende Wahrnehmung und Kooperation erhöht deutlich die Arbeitszufriedenheit aller Beteiligten. Konflikte und Differenzen können direkt angesprochen und geklärt werden und finden immer weniger statt, da es ein gemeinsames Arbeitsverständnis und eine gemeinsame Haltung in Bezug auf kindliche Bildung gibt.

Es geht nicht um unterschiedliche Professionen, sondern um das Ziel, GANZ vom Kind aus gedacht die Schule zu gestalten und GANZ gemeinsam weiterzuentwickeln. Es profitieren also nicht nur die Pädagoginnen und Pädagogen, sondern vor allem die Kinder von einem gestärkten Wir-Gefühl.

Ganztag bedeutet für die Kinder oftmals, sich 8 Stunden und mehr in der Schule aufzuhalten. Doch die Welt umfasst mehr als ein Schulgelände. Die Welt ist bunt und vielfältig. Diese Vielfalt wollen wir für die Kinder zum einen in die Schule hineinholen und zum anderen mit ihnen außerhalb der Schule in ihrem Stadtteil entdecken. GANZ Stadtteil beinhaltet, sich auf den Weg zu machen und die Freizeit- und Bildungsangebote des Stadtteils mit den Kindern kennenzulernen.
Die Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendkultur Hamburg – LAG unterstützt und begleitet zwei Standorte der Initiative Wir gehen aufs GANZE dabei, u.a. auch die GBS Tonndorf. Mit dem Start der Initiative gibt es in Tonndorf das „Kulturabo“ – ein neues Projekt zur Vernetzung von Kultur und Schule. Hier wird Kindern, die sonst wenig mit Kultur in Berührung kommen, die Möglichkeit geboten, im Rahmen eines Schnupperkurses, Kulturangebote aus den verschiedenen Sparten, wie z.B. Theater, Literatur, Kunst und Musik, kennenzulernen. Dieser Kurs findet wöchentlich und im Wechsel an den Schulen bzw. in den Kultureinrichtungen statt. So lernen die Kinder vielfältige Kulturpartner kennen.

Die GBS-Gestalter werden in der Prozessgestaltung durch eine professionelle Organisationsberatung unterstützt. Ein systemischer Managementcoach, begleitet die Entwicklungsprozesse an den Standorten und moderiert gemeinsame Konferenzen. Diese werden genutzt, um zusammen neue Ideen, Projekte und Konzepte auf den Weg zu bringen. So gab es in der GBS Tonndorf bereits im ersten Halbjahr zwei Ganztagskonferenzen. GANZ gemeinsam bedeutet hier auch einheitliche Regeln zu entwickeln und umzusetzen. Gab es vorher 48 Regeln, die ihre unterschiedliche Geltung im Vor- und Nachmittag hatten, wurden auf einer Konferenz die Regeln erneut diskutiert. Das Ergebnis sind 6 gemeinsame Regeln und eine Einigkeit im Umgang mit diesen. Für die Kinder ergibt sich daraus Sicherheit und Orientierung in ihrem Alltag. Durch die Einigkeit aller Fachkräfte kann sich das soziale Leben und Lernen an der Schule klar, überschaubar und gesichert weiterentwickeln.
Auch die Raumkonzepte müssen neu gedacht und bewertet werden. Die Hamburger Grundschulen sind als Schulen und nicht als Ganztagsschulen konzipiert und gebaut worden.  Die begrenzte räumliche Situation stellt einen dauernden Belastungstest für eine gelungene Kooperation dar, obwohl alle Beteiligten, Fachkräfte wie auch Kinder, täglich flexibel agieren und improvisieren, aufgrund der guten Kooperation funktioniert dies an der Schule Tonndorf recht gut. Zugleich ist es aber erklärter Wunsch aller, den Kindern über einen ganzen Tag mehr als nur Klassenräume  anzubieten.
Da im schulischen Ganztag die Räume miteinander und nicht nur nacheinander genutzt werden, müssen gemeinsame Vorstellungen über die Raumgestaltung und -nutzung entwickelt und kommuniziert werden. In einer gemeinsamen Kooperationszeit kann hierüber gesprochen werden. Unausgesprochene Vorwürfe und Streitigkeiten über „Raumhoheiten“ lösen sich auf, stattdessen wird aus einem gemeinsamen pädagogischen Verständnis heraus gestaltet. Es entsteht ein multiprofessionelles Team, das sein Wissen zum Wohle des Kindes einsetzt.
In der Schule Tonndorf wurde beschlossen, eine weitere Ganztagskonferenz zum Thema Raumgestaltung durchzuführen. Welche Räume brauchen Kinder in einem guten Ganztag? Und welche „Leer-Räume“, wie z.B. Kreuzbauten, Flure und Außengelände können hierfür besser und anders genutzt werden? In unterschiedlichen Planungsgruppen wurde der Phantasie freien Lauf gelassen und es entwickelten sich viele neue gute Ideen. Den Schuletagen wurden verschiedene Funktionen zugetragen, wie z.B. Ruhe, Spiel und Kreativität, Bewegung und eine „grüne Oase“ hinter dem Schulgebäude. Wenn auch nicht gleich alles sofort umgesetzt werden konnte und kann, so wollen die Teams doch in den nächsten Wochen gemeinsam mit den Kindern die ersten Schritte gehen, um die Schule zu einem lebendigen Ort des Miteinanders weiter zu gestalten.

Ob das Leuchtturmprojekt Wir gehen aufs GANZE auch im kommenden Schuljahr leuchten wird, ist noch unsicher. Bislang gibt es keine abschließenden Äußerungen der Schulbehörde, das Projekt weiterzuführen oder gar weiter auszubauen. Der Paritätische Hamburg wird die Schulstandorte unterstützen einen Antrag auf einen Schulversuch bei der Schulbehörde einzureichen, um so die gemeinsam begonnene Arbeit fortzusetzen und wissenschaftlich evaluieren zu lassen. Denn wir sind davon überzeugt, ein guter Ganztag für die Kinder gelingt nur gemeinsam!

Jutta Meyer
Qualitätsbeauftragte GBS
Rudolf-Ballin-Stiftung e.V.