Ein Fachbeitrag von Stefan Clotz
Wir haben eine erstrebenswerte Vision: Kinder erhalten in Ganztags-Grundschulen ein gemeinsames Zeugnis von Vor- und Nachmittag. Dabei soll es nicht darum drehen, dass die Zeiten ab 13.00 Uhr benotet werden. Es geht um die wichtige Frage, ob die Leistungen ab 13.00 Uhr, also des Nachmittags nicht auch berichtenswert sind.
Erzieherinnen und Erzieher an Hamburger GBS-Standorten berichten häufig von dem Gefühl, an dem Standort nur „zu Gast“ zu sein. Haus und Hof gehören der Schule, somit haben sie die wichtigeren Rechte. Das alleine aber würde sich wohl aushalten lassen, wenn man sich denn tatsächlich auf Augenhöhe verständigt. Dort, wo wenig bis gar keine gemeinsame Zeit zwischen Vor- und Nachmittag verbracht wird, kann selbst dieses Zusammenleben schnell erschüttert werden. Gemeinsame Konferenzen kreisen dann um Fragen wie
„Wer darf wo die Weihnachtsdekoration in der Klasse aufhängen?“,
„Welche Aufkleber markieren die Bastelsachen für welchen Bereich?“,
„Hausschuhe auch am Nachmittag tragen!“, oder
„Welcher Schrank wird wann abgeschlossen und wer stellt wann die Stühle hoch?“
Radikal betrachtet, sind solche Fragen für die Entwicklung der Kinder total unwichtig. Sie stellen sich auch nicht, wenn die Kooperation auf festen gemeinsamen Werten und Einsichten steht und es genügend Zeit zum Austausch gibt. Die Beobachtung ist: Je weniger Verständnis, umso mehr Regeln.
An vielen Standorten beobachten wir in diesen Fragen Stagnation oder sogar eine Rückentwicklung. Erschwert werden die Bemühungen um Gemeinsamkeit durch ein „Legitimations-Defizit“ des pädagogischen Nachmittags. Das System Schule genießt bei vielen Eltern eine relativ hohe Legitimation: Mathe und Deutsch sind wichtig, die Lehrer genießen zumindest bei Eltern einen gewissen Status, das Gesamtsystem ist gesetzlich geregelt und verpflichtend. Eigene Erfahrungen der Eltern („Was uns nicht geschadet hat, schadet auch meinem Kind nicht“) verstärken diesen Eindruck oft noch.
Für einen guten Ganztag ist es wichtig, dass der Nachmittag und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine Chance auf eine eigene Legitimation erhalten. Für viele Mitarbeiter war dies im klassischen Hort/Kita-Bereich noch völlig anders. Dort waren sie erster Anlaufpunkt im betreuten Leben der Kinder. Beziehungen zu Eltern hatten auch immer etwas mit einer „Wohlfühl-Welt“ zu tun. Das „Duzen“ der Eltern und durch die Eltern ermöglichte fast freundschaftliche Beziehungen. Das alles sind Rituale und Bedingungen, die auf dem Schulhof plötzlich in Frage stehen. Und es schließt sich zwangsläufig die Frage an: Wofür steht denn der „Nachmittag“?
Durch den sehr organisatorischen Aufbau des GBS-Systems mutieren Erzieherinnen und Erzieher teilweise – dramatisch formuliert – zu Erfüllungsgehilfen verschiedenster Ansprüche: In der Mensa als „Aufpasser“ beim Essen, bei den Hausaufgaben als verlängerter Arm schulischer Ansprüche, im Kursmanagement und in Abholsituationen als Zeitmanager und Verwalter von Namens-Listen. Und dort wo Erzieherinnen und Erzieher sich im Nachmittag Raum und Zeit erkämpft haben, stehen Sie für „Freispiel“ und „Konzeptlose Zeiten“. Hier werden sie auch Opfer der gesellschaftlichen Vorstellung (wenngleich schon lange wissenschaftlich widerlegt), dass „Nichtstun“ und „Langeweile“ keine wichtigen Momente einer Kindheit sind. Im Prinzip aber führen die Rahmenbedingungen dazu, dass Erzieherinnen und Erzieher oft nur als „bessere Aufpasser“ gesehen werden. Das erschwert vor Ort den Versuch, mit den Lehrerinnen und Lehrern auf Augenhöhe zu kommunizieren.
Dabei könnte es doch eine Chance sein, die schulischen Beurteilungskriterien auf den Nachmittag anzuwenden und diese so besser zu legitimieren. In Hamburger Grundschulzeugnissen werden bisher schon vom ersten Schuljahr an, drei Kompetenzen beurteilt:
- Selbstkompetenz,
- sozial-kommunikative Kompetenz und
- lernmethodische Kompetenz.
Sie können von „sehr schwach“ bis zu „sehr stark“ beurteilt werden. In klassischen Kompetenzmodellen wird oft noch eine vierte Kompetenz erwähnt, die sogenannte „Feldkompetenz“. Bei Erwachsenen bezeichnet diese Kompetenz „Branchenwissen“, also das Wissen um das Berufsumfeld.
Das Umfeld der Kinder ist die Welt.
Für einige Kinder wird diese Welt im Ganztag kleiner, da sie an einem Ort bis 18.00 Uhr verharren. So entstand die Idee, ob nicht die Zeit ab 13.00 Uhr eine Art „Weltzeit“ werden könnte. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Jugendhilfeträgern sind prädestiniert für die Vermittlung von „WeltWissen“. Dabei können gerne auch Themen aus dem schulischen Vormittag aufgegriffen werden. Letztendlich ist aber der Gang zum Bäcker, das Zählen von Rückgeld, das Schreiben eines Briefes, der Gang zur Post, das Toben und das Ruhen, das Spielen und das Streiten, die beste Vorbereitung auf diese Welt.
Exekutive Funktionen wie die:
- Regulierung eigener Gefühle und Impulse,
- das Setzen von Zielen und Prioritäten sowie
- der Perspektivwechsel
sind wichtige Bausteine in der kindlichen Entwicklung. Sie können mit spielerischer Leichtigkeit im Nachmittag vermittelt werden. Vieles was heute als „Freispiel“ belächelt wird, dient in Wahrheit der Entwicklung wichtiger Kompetenzen. Im Prinzip verkauft eine Branche sich und ihre Angebote hier „unter Wert“. Es gilt also, in klugen Konzepten diesen Aktivitäten einen Rahmen zu geben, dem Ganzen einen „verkaufbaren“ Namen zu verleihen und das Ergebnis überzeugend zu kommunizieren. So entstand die Idee eines neuen Kompetenzmodells, der Nachmittag kümmert sich um die Vermittlung von
„WeltWissen“.
Ein wenig Marketing kann dem Nachmittag im Ganztag nicht schaden!
Bei ersten Präsentationen war die Reaktion von schulischer Seite oft: „Das vermitteln wir doch auch im Vormittag“. Das ist unbestritten. Aber wollen wir nicht in einem so ungleich legitimierten System dem Nachmittag eine einzige Kompetenz überlassen? Das Ziel muss ohnehin sein, dass in einiger Zeit diese Kompetenzen von beiden Professionen gemeinsam beurteilt werden. Bis dahin aber könnte gelten: Der Jugendhilfeträger fügt dem Kompetenzmodell ein neues Puzzle-Teil hinzu.